Solidarität geht nicht nur in eine Richtung. Was während der Corona-Pandemie mit den Kindern und Familien geschieht, hat unser Mitglied M. in einem persönlichen Plädoyer aufgeschrieben.
Solidarität mit den Kindern!
Nach nunmehr fast sechs Wochen des Ausnahmezustandes öffnet sich das Land wieder zaghaft für einen Hauch Normalität - Läden öffnen, Friseure demnächst, Abiturprüfungen werden geschrieben, weitere Lockerungen in der kommenden Woche verkündet. Doch für einen Teil der Bevölkerung trifft dies nicht zu: Familien mit jungen Kindern - Kita-Kindern. Sprachlos, ungläubig und verzweifelt werden diese nun zurückgelassen. Viele fühlen sich alleingelassen und nicht gesehen. Wut macht sich breit. Ressourcen sind aufgebraucht - in jeder Hinsicht. Hat das Auswirkungen auf mein bestehendes Arbeitsverhältnis? Wie die nächsten Wochen finanziell weiter überstehen? Wie mental? Was macht das mit der eigenen Kraft? Was macht das mit der Familie? Und vor allem: mit den Kindern???
All das sind Fragen, mit denen Eltern und Kinder in Not in unserem Land nicht allein gelassen werden dürfen! Während umfangreiche Rettungsschirme für die Wirtschaft aufgespannt werden, Hilfen schnell und unbürokratisch fließen, Konzepte für die Wiederbelebung der Industrie auf Hochtouren entwickelt werden, packt Millionen von Familien die Verzweiflung aufgrund diskussionsloser Perspektivlosigkeit. Während darüber diskutiert wird, welche psychischen Folgen die massiven Grundrechtseinschnitte bei älteren und gefährdeten Mitmenschen haben, erleben wir Eltern immer häufiger eine Stigmatisierung unserer Kinder als potenzielle Bakterien- und Virenträger in der Öffentlichkeit. Zutrittsverbot für Kinder in einzelnen Geschäften, barsche Zurechtweisungen oder pauschale und verletzende Vorwürfe von Mitmenschen bei Begegnungen im öffentlichen Raum lassen die Situation, in der wir Eltern uns befinden, manchmal kaum erträglich erscheinen. Das möchten wir nicht hinnehmen, wir wollen diskutieren und debattieren! Wir sind ebenfalls ein Teil dieser Gesellschaft! Ein wichtiger sogar. Wir Eltern tragen entscheidend dazu bei “den Laden am Laufen zu halten”. Vielleicht nicht unmittelbar systemrelevant, aber jeweils innerhalb unserer kleinen Systeme sehr wohl relevant! Als Steuerzahler, als Angestellte für die Firmen und Betriebe, für die wir arbeiten, als Selbstständige, als Ehrenamtliche, als Freunde, als Töchter und Söhne der älteren Generation und als Eltern der Zukunft dieses Landes. Wir unterstützen die Solidarität in diesem Land und vor allem den Schutz der Risikogruppen - betrifft es doch oft sogar die eigenen Eltern. Aber eine andere schutzbedürftige Gruppe darf dabei nicht vergessen werden: unsere Kinder! Sie sind ein lebendiger Teil unserer Gesellschaft mit eigenem Sozialgefüge und einem Recht darauf. Gerade für kleine Kinder ist ein derartig abruptes Wegbrechen all ihrer Beziehungen, ihrer Kontakte zu Bezugspersonen, ihren Freunden und Verwandten, den Bewegungs- und Spielmöglichkeiten - ihrem gesamten gewohnten und sicheren Umfeld, kaum verständlich, zutiefst beunruhigend und besorgniserregend. Zurückgeworfen zu sein auf eine Kernfamilie, in der auch die Eltern in ihrer wachsenden Verzweiflung all dies nicht mehr adäquat auffangen können und es auch keine Möglichkeit für die Kinder gibt, einmal Abstand zu gewinnen, kann für eine gesunde Entwicklung der Kinder schädlich sein! Da dies gerade in einem gesamtgesellschaftlichen Ausmaß geschieht, wird es allerhöchste Zeit, möglichst schnell adäquate Konzepte zu entwickeln, um für eine positive Veränderung dieser Situation zu sorgen!
In den letzten Wochen wurde immer deutlicher, dass sich Kinderbetreuung und Home-Office nicht miteinander vereinbaren lassen! Zerrissen zwischen Job und den Bedürfnissen der Kinder lässt sich all den Ansprüchen in der derzeitigen Situation nicht gerecht werden. Es ist daher von primärer Bedeutung, die betroffenen Eltern mit einem Kündigungsschutz für die Zeit jetzt und auch “danach” auszustatten. Um Existenzängste zu nehmen ist aber auch dringend finanzielle Unterstützung notwendig. Lohneinbußen sind unvermeidbar, über wenige Wochen vielleicht zu verkraften, aber über Monate nicht mehr zu schaffen. Eltern brauchen ein Recht auf Stundenreduzierung zur Betreuung ihrer Kinder sowie finanziellen Ausgleich. Die aktuellen Hilfen reichen bei weitem nicht aus! Der Notfall-Kinderzuschlag ist einkommensabhängig und erreicht somit nicht alle Eltern. Der momentan für 6 Wochen gültige Lohnersatz (bei Kita- und Schulschließung nach Infektionsschutzgesetz) sollte entfristet werden und der Satz von 67% ebenso wie das Kurzarbeitergeld erhöht werden. Letzteres sollte gerade für Eltern flexibler ausgestaltet werden. Alternativ wäre ein Corona-Kindergeld für alle Familien denkbar.
Neben der Sicherung der existenziellen Grundlage der Familien sind Konzepte für die Ausweitung der Notbetreuung und der schrittweisen Wiedereröffnung der Krippen und Kitas absolut unerlässlich! Hier sollte die Freiwilligkeit auf Seiten der Eltern gewährleistet sein! Es muss möglich sein, dass sich Eltern, die bei erhöhter Sorge aufgrund der Infektion, gegen eine derzeitige “Abgabe” des Kindes in der Betreuungseinrichtung entscheiden, ohne dass der Kitaplatz dadurch gefährdet ist. Zudem sollten Gebühren nur für die Eltern der Kinder erhoben werden, die die Kita dann auch besuchen. Es wäre unseres Erachtens sinnvoll, eine zeitnahe Abfrage durch die einzelnen Kitas zu starten und den aktuellen Betreuungsbedarf zu ermitteln. Vermutlich werden zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht alle Eltern die Möglichkeit nutzen wollen. Zugleich sollte, neben der Berücksichtigung von systemrelevanten Familien und Alleinerziehenden, die Notbetreuung beispielsweise für Kinder von Eltern geöffnet werden, die selbstständig oder beide für den jeweiligen Betrieb unabkömmlich an Ihrem Arbeitsplatz sind. Eine weitere schrittweise Öffnung sollte dennoch stetig weiter verfolgt werden. Um mögliche Infektionsketten zu vermeiden, könnten in der Kita kleine in sich abgeschlossene Systeme entstehen - Mikrogruppen von beispielsweise 5 Kindern und 1 bis (vertretungsweise) 2 festen Betreuern, die nicht wechseln. Diese Gruppen könnten im Schichtsystem die Kita besuchen, also beispielsweise immer vormittags und immer nachmittags. Für die Bildung dieser Gruppen sollten alle Räumlichkeiten sowie der Außenraum der Kita genutzt werden. Auch die Bildung von “Naturgruppen” im Wald, Schrebergarten oder am Strand kann eine Möglichkeit der Betreuung an der frischen Luft darstellen. Eine Staffelung der Gruppen nach Alter wäre eine Möglichkeit, um beispielsweise den Vorschulkindern andere Angebote in der reduzierten Zeit machen zu können. Problematisch könnte hier unter Umständen jedoch die Berücksichtigung von Geschwisterkindern in der Einrichtung sein. Hier sollte zur weiteren Eindämmung einer möglichen Infektion über die Betreuung von Geschwisterkindern innerhalb Gruppe nachgedacht werden. All das kann natürlich nur unter der Prämisse des Schutzes der Risikogruppen geschehen. Das bedeutet, dass Risikogruppen auf Seiten des Personals, wie auch betroffene Kinder oder Eltern bis auf weiteres dem Betrieb der Betreuungseinrichtung fern bleiben. Unter Umständen wird das im Einzelfall zu Personalengpässen führen. Die Vergütung für die Freistellung dieser Mitarbeiter-Gruppe muss von Kommunen und Land - wie auch bei betroffenen Lehrern - weiterhin sichergestellt werden. Es muss aber auch gewährleistet werden, dass Erzieher aus eigener Angst vor einer Infektion Kinder nicht ablehnen! Dies ist leider schon vereinzelt beobachtet worden. Wir plädieren für die Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher für einen möglichen “Corona-Bonus”, eine Sonderzahlung, wie er in der Pflege schon zum Einsatz kommt. Wir wünschen, dass man sich spätestens anlässlich der jetzigen Situation wieder mit einer Erhöhung der Gehälter sowie der finanziellen Verbesserung der Ausbildungssituation für Erzieherinnen und Betreuerinnen auseinandersetzt!
Bezogen auf Hygiene und Arbeitsschutz sollte über eine ähnliche Handhabung wie in den Pflegeberufen nachgedacht werden. Zum Tätigkeitsfeld von Erzieherinnen und Betreuerinnen gehört es, sich unmittelbar und körperlich um Menschen zu kümmern - (Krippen-) Kinder müssen gewickelt, in den Arm genommen und getröstet werden. Ein Wahrung des gebotenen Mindestabstands ist in diesem Rahmen schlichtweg nicht möglich und sollte, wie auch das Tragen von Masken, vermieden werden. Vor allem für kleine Kinder wirken Masken irritierend und beängstigend, da gerade diese auf die Mimik ihres Gegenübers angewiesen sind, um kommunizieren zu können. Häufiges Händewaschen und die Niesetikette kann mit Kindern trainiert werden. Darüber hinaus sollte für Personal sowie holende und bringende Eltern Desinfektionsmittel in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen. Auch die Räumlichkeiten sowie Spielzeug könnte zusätzlich stärker gereinigt und öfter desinfiziert werden. Um ein Häufen der Eltern in der Garderobe zu verhindern, kann es Beschränkungen bei dem Betreten des Gebäudes geben, ähnlich wie in Geschäften. Ältere Kinder könnten zudem morgens draußen an der Tür verabschiedet werden. Besonders hervorzuheben ist eine Verschärfung der Aufnahmeregeln bei Infekten und anderen Erkrankungen. Es sollten strengere Grenzen als bisher geltend gemacht werden. Hier ist sicher auch größere Flexibilität auf Seiten der Arbeitgeber der Eltern gefragt. Gerade in den jetzigen Zeiten, sowie auch zukünftig, sollte man auf Symptomfreiheit achten und bei leichten Erkrankungen der Betreuungseinrichtung sowie auch der Arbeitsstätte fernbleiben.
Sollte eine baldige schrittweise Öffnung der Kitas nicht erfolgen muss auf die Ausweitung der privaten Möglichkeiten erfolgen! Das bedeutet, dass Spielplätze wieder zugänglich und ein Treffen der Kinder untereinander möglich gemacht werden müssen. Denkbar wären hier private Betreuungsgemeinschaften mit festen Gruppen zwischen z.B. 5 Familien, die sich täglich abwechseln. Dies ersetzt jedoch keinesfalls die frühkindliche Bildung in den Krippen und Kitas und muss finanziell unterstützt werden, da hier Familien die Aufgabe des Staates übernehmen würden. Im Rahmen der Nachbarschaftshilfe darf man sich aktuell in Schleswig-Holstein mit max. 5 Kindern unentgeltlich im gleichen Haushalt aufhalten. Wir möchten an dieser Stelle auf die Gefahr der eventuellen unkontrollierten Ausbreitung aufmerksam machen. Unseres Erachtens ist ein klarer Rahmen mit abgeschlossenen Systemen innerhalb der Betreuungseinrichtungen der sichere Weg um Infektionsketten nachvollziehbar zu halten. Die notdürftige private Organisation dürfte eine eventuelle Infektion sicherlich undurchsichtiger machen.
Für den Betrieb der Betreuungseinrichtungen ist bei all dem natürlich die permanente Beobachtung und Bewertung von Infektionszahlen unerlässlich! Deren Entwicklung muss bei positivem Verlauf eine stetige Anpassung der Schutzmaßnahmen, weitere Lockerungen und die Erhöhung der Gruppenzahlen zulassen. Wie in allen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens muss auch hier die so oft beschworene “dynamische Anpassung” stattfinden. Vielleicht wäre auch eine Reaktion auf die regionalen Unterschiede der Infektionsausbreitung denkbar. Umfangreiche und regelmäßige (Antikörper-)Testungen des Kita-Personals - wie auch in den Pflegeberufen und bei Krankenhausmitarbeitern vorgesehen - sind hier zur Überprüfung des Infektionsgeschehens zwingend erforderlich. Außerdem muss im Rahmen von Kohortenstudien schnellstmöglich wissenschaftlich nachgewiesen werden, wie Kinder erkranken bzw. welche Rolle sie beim Infektionsgeschehen spielen, um daraus realistische Entscheidungsgrundlagen zu erstellen. Beobachtungen und Erkenntnisse aus anderen europäischen Ländern (wie z.B. Island, Dänemark und Schweden) können in die Betrachtung unserer Gesamtsituation einfließen.
Allen muss bewusst sein, dass bisherige Beeinträchtigungen sowie die geltenden Regelungen zur Quarantäne weiterhin gelten und in unserem Alltag noch einige Zeit präsent sein werden. Dies verlangt von uns allen in Zukunft erhöhte Flexibilität und viel Verständnis! Auch gegenüber unseren Kindern.
M.